Ohne Vergebung kommen wir in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen nicht weit. Konflikte passieren und wollen gelöst werden. Wer nicht vergeben kann und die Schuld immer beim anderen sucht, belastet nicht nur den Nächsten, sondern vor allem sich selbst.
Allerdings kann auch ein bitterer Nachgeschmack zurückbleiben, wenn die andere Person nicht in den Vergebungsprozess mit hineingenommen werden kann und die Vergebung einseitig bleibt. Es fällt dann schwerer, einen Schlussstrich unter alles zu ziehen, selbst wenn man dem Gegenüber verziehen hat.
Ich kann es aus Erfahrung sagen, dass ein Konflikt erst dann vollständig aus der Welt geschafft ist, wenn sich beide Seiten aussprechen können und es zu einer Versöhnung kommt. Es ist sogar möglich, dass er im Nachhinein als wertvoll für die Beziehung empfunden wird.
Ein solcher Ausgang eines Konflikts ist der Allerschönste. Aber auch dann, wenn die Beziehung nicht mehr fortgesetzt werden möchte, ist es befreiend, wenn beide Parteien sich aussprechen und versöhnen können.
Menschen, die einander vergeben haben und versöhnt sind, sprechen nicht mehr mit Bitterkeit über ihre Konflikte, sondern sie erzählen mit Freude über die Lösung, die sie dafür gefunden haben.
Ich möchte euch mit eben dieser Freude eine Geschichte erzählen:
Es waren zwei ganz unterschiedliche Welten, die damals aufeinanderprallten. Zwei Frauen, ich – eine junge, fröhliche, sprühend voller Lebensfreude und Nira, Israelin, etwas älter und bitter geworden, welche aus sicherer Distanz misstrauisch alles und jeden betrachtete.
Was uns beide Frauen zusammen brachte, war die hebräische Sprache. Ich war diejenige, welche die Sprache erlernen wollte. Deshalb fragte ich Nira um privaten Sprachunterricht an und so geschah es, dass wir uns regelmässig trafen. Wir hatten beide Spass dabei – zu lehren und zu lernen, und mit der Zeit entstand sogar eine Art Freundschaft zwischen uns. Wir verbrachten allmählich mehr Zeit zusammen, unternahmen gemeinsame Wanderungen und unterhielten uns über dies und jenes. Der Höhepunkt unserer Freundschaft war eine gemeinsame Reise nach Israel.
Allerdings blieb immer ein Stück Mauer zwischen uns bestehen. Je mehr ich versuchte, diese abzubrechen, desto mehr bemühte sich Nira, sie aufrecht zu halten. Zwar konnten wir uns mittlerweile in Hebräisch unterhalten, aber wir verstanden uns trotzdem je länger je weniger. Die unterschiedlichen Lebensanschauungen wurden mehr und mehr zum Stolperstein. Mein Optimismus prallte immer öfters mit Nira’s negativem Denken zusammen. Kritik gabs hier, Kritik gabs dort. Eigentlich war nichts gut, ausser es war perfekt.
Ich war alles andere als perfekt und konnte es ihr nie recht machen. Langsam verlor ich meine Freude in ihrer Gegenwart. Es war mir, als würde meine gute Laune sie geradezu zum Jammern anstacheln. Immer öfters wurde ich zum Ziel verletzender Kritik
Der Tag kam, wo ich den Kontakt abbrach. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, denn ich wollte Nira wirklich eine Freundin sein. Aber ich wollte mich auch nicht mehr der ständigen Kritik aussetzen müssen.
Die Tatsache über die nicht gelungene Freundschaft beschäftigte mich lange Zeit und stimmte mich traurig
Seitdem begegnete ich Nira nur noch sporadisch im Dorf. Wir grüssten uns, fragten wie es geht. Aber mehr liess ich nicht mehr zu, wenngleich ich spürte, dass Nira mich jeweils freundlich anlächelte. Die Ablehnung, die ich in der Vergangenheit von ihr immer wieder erfuhr, war in mir gegenwärtig.
Ein paar Jahre später begegneten wir uns unerwartet wieder. Ich war auf dem Weg zum Seniorenheim, als ich Nira in sich zusammen gefallen in einem Rollstuhl sitzend vor dem Eingang erkannte.
Wir sahen uns an und in diesem Moment geschah etwas Wunderbares. Ich – sichtlich erschrocken über die Situation, in welcher sich Nira befand – spürte, wie sich etwas in meinem Herzen auftat. Da war plötzlich eine Welle von Liebe und Annahme in mir, ich spürte Hilflosigkeit und Demut zugleich. Es war mir, als würde der Raum um uns weit und darob kamen wir ins Gespräch.
In unserer gemeinsamen Sprache miteinander sprechend, war es, als würden wir einander plötzlich verstehen. Beide haben wir in den vergangenen Jahren Dinge erlebt, die uns reifer und weicher werden liessen.
Nun war es Nira, die eine Bitte an mich hatte: Besuche mich, rede in meiner Muttersprache mit mir. Das würde mir guttun. Und ich antwortete freudig: Ja, ich besuche dich.
Das war vor einem Jahr. In einer Woche reisen wir (Nira ist es immer noch ein wenig missmutig und eklig drauf😊) zusammen nach Israel. Keine von uns hätte gedacht, dass uns das nochmals passieren würde.
Versöhnung macht alles besser!
Drückt uns die Daumen für die nicht ganz einfache Reise und dass es für Nira, die eigentlich doch sehr mutig ist, ein unvergesslich schöner 70. Geburtstag im Kreise ihrer Familie wird und sie ihren hochbetagten Vater in ihrem Heimatdorf im Süden Israels nochmals in die Arme schliessen kann.
Ergänzung:
Im Frühjahr 2023 reisten Nira und ich ein zweites Mal nach Israel. Sie ist meine liebe Freundin geworden. Für die schöne Zeit, die wir versöhnt miteinander erleben durften, bin ich unendlich dankbar.
Nira ist am 21. Februar 2024 nach langer Krankheit und voller Gram über das Geschehen am 7. Oktober 2023 gestorben
Ihr Andenken ist ein Segen für mich.