Vor einem Jahr habe ich die Festtage in Israel verbracht. Ich wollte nach dem plötzlichen Tod von Jürg weder Weihnachten noch das Neujahrsfest erleben. Und dann hatte ich folgende Begegnung:
Lieber Jürg
Sind wir und begegnet? Es ist mitten in der Nacht und ich denke gerade über die gestrige Begegnung im Busbahnhof in Tel Aviv nach…
Nach fast zwei Stunden Busfahrt, kam ich bei strömendem Regen in Tel Aviv an. Meine Stimmung war trüb wie das Wetter. Während der Reise musste ich viel an dich denken. Ich vermisste dich so sehr.
In dem grossen, alten und halbwegs verlassenen Busbahnhof suchte ich auf der sechsten Etage das Schild, das mir den Weg zum Ausgang zeigt.
Der Bahnhof hat insgesamt sieben Stockwerke. Ehemals war dieser nicht nur der grösste Busbahnhof der Welt, sondern auch das grösste Einkaufszentrum Tel Avivs, aber heute ist er wohl eher eine der grössten Gebäuderuinen der Stadt. Es gibt noch ein paar wenige Geschäfte, die ihre Waren anbieten, vor allem sind es Fast Food Geschäfte, wo sich die Reisenden schnell etwas zu essen kaufen können. Dazwischen verlassene Läden, Wände die herunter bröckeln, zum Teil komplett leere Hallen, halbwegs funktionierende Rolltreppen. Ein Treffpunkt für Randständige, Obdachlose und eben – zwangsläufiger Durchgangsort für Reisende.
Überall waren Schilder, die ich nicht verstand, ausser den Hinweis zur Toilette. Dorthin hätte ich eigentlich dringend gehen müssen, aber aus Erfahrung wusste ich, dass es besser ist, mich abzulenken und vorläufig nichts mehr zu trinken, als eine dieser Toiletten aufzusuchen. Und mit dem Gepäck im Schlepptau – das war ganz unmöglich.
Ich ging auf zwei Männer zu, die vor einem Geschäft sassen und sich unterhielten und fragte nach dem Ausgang. Der Jüngere gab mir freundlich Auskunft. Bezüglich der Toiletten konnte er mir nur bestätigen, dass es besser wäre, ich würde erst in der Eisenbahn zur Toilette gehen, aber ich dürfe das Gepäck gerne bei ihm lassen, wenn es dringend sei, so wäre es dann einfacher für mich.
Ich entschied mich zu warten und da es immer noch regnete und ich nicht in Eile war, blieb ich beim Geschäft stehen. So kam ich mit dem dem jungen Mann ins Gespräch. Seine herzliche und offene Art berührte mich. Er erzählte mir von seinen Träumen und fing gar an, mit mir zu philosophieren. Irgendwie fühlte ich mich wohl an diesem Ort, der doch eben gerade noch grau, verlassen und ungemütlich war.
Damit ich draussen mal nach dem Wetter schauen konnte, nahm er die Koffer fürsorglich für einen Moment zu sich in den Laden. Als ich zurück kam und sein Geschäft betrat, wurde ich erst gewahr, dass es ein Tabakladen war – alles voller Tabak, E- Zigaretten und allerhand Zubehör. Ich war für einen Moment sprachlos.
Unvermittelt sah ich mich in deinem Wohnwagen stehen, lieber Jürg – und vor mir stand der grosse Sack, den wir mit all den Tabakwaren füllten, welche wir in deinen Schränken und Regalen fanden. Dein Häuschen war ein regelrechter „Tabakladen“. Ich wusste das nicht. Du hast mir nie davon erzählt.
Die Erinnerung daran trieb mir die Tränen in die Augen.
Hier ist alles voller Tabak!“ sagte ich nur. Der junge Mann schaute mich verlegen an und meinte: „Naja, das ist mein Geschäft. Aber besser ist es, nie mit dem Rauchen anzufangen, nicht wahr?“
Und dann nahm er mich einfach in die Arme und sagt: „Du bist eine wunderbare Frau!“
Aufgewühlt verliess ich das Geschäft ohne mich nochmals umzudrehen. Obwohl alles in mir dort bleiben wollte, bei der Umarmung, beim Zuspruch. Bei dir im Wohnwagen. Aber meine Reise ging weiter, ich musste gehen.
Und mein Leben geht auch weiter, lieber Jürg. Ohne dich. Aber in meinem Herzen bist du immer dabei und manchmal fühlt es sich an, wie eine Umarmung und wie ein liebes Wort.
Deine wunderbare Frau
Nachtrag:
Jürg hatte sich vier Jahre vor seinem Tod einen Traum erfüllt – Leben auf dem Campingplatz
Ich habe ihn dabei tatkräftig unterstützt und mich mit ihm über sein herziges Häuschen mit Wohnwagen gefreut.
Es tröstet mich heute, dass er dies noch erleben und geniessen durfte.


sein Traum vom Wohnen auf dem Campingplatz wird wahr, Frühling 2021


Der alte Central Busbahnhof in Tel Aviv – ein verlassener Ort Dezember 2024