die nackte Wahrheit

Als Einzige nackt in einer Menschenmenge zu stehen und von allen angestarrt zu werden – das war früher einer meiner schlimmen Albträume. Im Traum verstand ich nicht, wie ich immer wieder in diese ungemütliche Situation geraten konnte und schämte mich sehr. Jedesmal war ich aufgewühlt und traurig, wenn ich erwachte.

Heute verstehe ich den Traum sehr gut und erst recht nach dem vorhergehenden Beitrag hier auf Brigwords. Nur – im Gegensatz zu jener Geschichte, hat mir keiner die Kleider  weggenommen.
Ich bin es ja selbst, die sie ganz bewusst ablegt. Immer wieder. Allerdings ist es wirklich nicht angenehm, inmitten von gut Gekleideten nackt da zu stehen. Man überlegt sich das zweimal. Handkehrum erkennt man aber gerade durch die eigene Nacktheit andere Nackte und fühlt sich wohl unter ihnen.
Trotzdem – ich lege mir noch oft ein Kleid um, weil das Nacktsein in einer von Kleidern regierten Welt einfach schwer auszuhalten ist. Für beide Seiten.
Aber irgendwann – das ist mein Traum – brauchen wir uns nicht mehr zu kleiden, weil wir dann erkennen, dass wir nackt einfach freier und glücklicher sind. 

P.S. den Text nochmals lesen und „nackt“ durch wahr und „Kleider“ durch Maskierung ersetzen.

Hinweis zum schweizerdeutschen Gedicht:
„blutt“ bedeutet nackt

die blutt Wohret

I stande blutt
vor allne Lüüt
cha mi niene go verstecke
leider hani jezt grad nüt
wo mini Blütti würd bedecke
Keine isch,
wo mir sis Chleid
uslehnt, oder öppis seit

sie luege nur und starre
Wie wär’s
anstatt eso z’verharre
es würden alli sich entblösse?
Es würd s’Problem uf ei Schlag löse
d‘Tatsach wär
mer wäred gliich
blutt
egal öb arm, öb riich
mer wäred offebar und bloss
all eusi Maske wär‘ mer los
und alles
was mer denn no gsehnd
isch genau das
wo mer wend
d’Wohret

DSC08705 (Medium)
oder öppe nid?

10 Kommentare zu „die nackte Wahrheit

  1. Klar ist es besser, heute Kleider zu tragen, denn die Menschen können mit Nacktheit nicht mehr umgehen. Früher, zu Zeiten der Vestalinnen und jener Zeit, als Goethes „Der Gott und die Bajadere“ spielt, war Nacktheit etwas Besonderes, etwas, was in Platons Sinne Schönheit war und sich auf die inneren Sinne auswirkte, also geistig anregte. Davon weiß man heute nichts mehr, weshalb auch Goethes Ballade überhaupt nicht mehr verstanden werden kann und man auch gar nicht mehr versteht, was die sogenannte platonische Liebe bewirkt und es mit dem Schönen auf sich hat.
    Klar waren mit den nur mit Seide bekleideten Vestalinnen angenehme Gefühle bei den Priestern und Eingeweihten verbunden (warum auch nicht), aber sie führten nicht zu Lüsternheit. Mit der befruchtenden Schönheit von Weiblichkeit konnte man früher noch umgehen. Heute nennt man das, wenn man überhaupt etwas Erweiterndes versteht, Sublimination und Psychologie glaubt, mit einem Begriff geistige Prozesse erfassen zu können – das tut sie für mich nicht, im Gegenteil, sie verschleiert sie leider oft.

    Vor Gott kann man nur nackt treten.

    In der Bibel heißt es, dass nur die, die reinen Herzens sind, Gott schauen. Nacktheit ist das Gewand des reinen Herzens

    Schiller hat auch darum gewusst, deshalb sein „Bildnis zu Sais“. Wer mit Wahrheit, also Nacktheit nicht umgehen kann (vor Christi Geburt heißt das: noch nicht eingeweiht war in die Isis-Osiris-Mysterien), dreht durch, wird ggf. wahnsinnig. – Heute verstehen das nur noch sehr wenige.

    Goethe lässt im „Faust“ sich Gretchen, während sie das Thule-Lied, ein Lied über ewige Treue und Liebe, singt, ausziehen. Dahinter verbirgt sich ebenfalls eine tiefe Symbolik; Margarete bekennt sich zu einer Liebe, wie sie in diesem Lied vorkommt, das ist ihre Wahrheit, ihre Nacktheit, ihre Reinheit.

    Dein Traum ist ein Geschenk der Geistigen Welt gewesen – und ist es immer noch. Er sagt ja Wunderbares über Dich. Was Du mitgebracht hast und was Du ja auch, so glaube ich Deinen Zeilen zu entnehmen, annimmst. Vielleicht bedeutet er aber noch mehr, als Du bisher zulässt.

    Liebe Grüße,
    Johannes

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  2. Die „nackte“ Wahrheit verträgt kaum jemand, deshalb haben wir uns angewöhnt, um den heißen Brei herumzureden. Nur in Kabarettsendungen wie „Die Anstalt“ werden die Kuriositäten gewisser Entscheidungsträger blossgestellt, aber eben humorvoll verpackt, obwohl es eigentlich zum Heulen ist. Warum wir uns bekleiden und was wir damit zum Ausdruck bringen, das ist ein großes Thema. Schön, dass du es mal ansprichst. In meinem Blog habe ich es in dem Gedicht „Verschleiern“ auch getan und bin beim Smartphone gelandet.

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    1. danke für deinen Beitrag. Es ist wirklich ein grosses Thema, mit welchem man täglich konfrontiert wird…eben gerade an einer Sitzung. Floskeln, schöne Worte….aber man meint genau das Gegenteil.
      Dein Gedicht, ja ich erinnere mich daran. Muss es nochmals lesen….
      ein schönes Wochenende wünsche ich dir
      Brig

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  3. Liebe Brig, ja, die Wahrheit wird in der Zeit der „Fake News“ immer wichtiger. Dadurch braucht es verstärkte Anstrengungen und vermehrt Mut, unsere Masken fallen zu lassen. Guter Text und originelles Gedicht. Danke. Elisa

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    1. Menschen ohne Maskierung sind erkenn- und berechenbar für andere – jedoch nur, wenn sie am Status Quo festhalten und sich nicht weiterentwickeln (mögen).
      Hoffen wir das Beste und lassen Weltbilder und Schubladen Schnee von gestern sein – wenn der getaut ist, kommt etwas Wahres zum Vorschein.

      Liebe Grüße,
      Raffa.

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